Stigmatisierung im Gesundheitswesen

Auch im Gesundheitswesen sind gewichtsbezogene Stereotypen, Vorurteile und Diskriminierung von Menschen mit Adipositas weit verbreitet (Puhl & King, 2013; Puhl & Suh, 2015). Aus der Sicht von Menschen mit Adipositas sind Ärzte sogar die zweithäufigste Quelle von Diskriminierung. Eine Studie mit 682 Ärzten und Pflegekräften im deutschsprachigen Raum zeigte gewichtsbezogene Stereotype bei diesen Berufsgruppen, wobei rein individuelle Ursachenzuschreibungen stärker bei ärztlichem Personal als bei den Pflegekräften zu beobachten waren (Sikorski et al., 2013). Eine Befragung von 107 Medizinstudenten offenbarte auch in dieser Gruppe stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit Adipositas (Puhl et al., 2014). Weitere Studien zeigten stigmatisierende Einstellungen bei Pflegekräften (Ward-Smith & Peterson, 2016). Eine Übersichtsarbeit an Ernährungsberatern belegte ebenfalls stigmatisierende Einstellungen, wobei deren Intensität etwas geringer ausfiel als in der Gesamtbevölkerung (Jung et al., 2015). Stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit Adipositas treten somit auch bei spezialisierten Fachkräften in der Gewichtsreduktionbehandlung auf (Tomiyama et al., 2015): Patienten mit Adipositas wird häufig fehlende Willensstärke und Selbstkontrolle, aber auch mangelnde Hygiene zugeschrieben. Zudem wird bei Patienten mit Adipositas häufig von mangelnder Compliance (Nichteinhalten von Verhaltensregeln, Nichtwahrnehmen von Terminen) und einem schlechteren Therapieerfolg als bei normalgewichtigen Patienten ausgegangen. Sind Patienten mit Adipositas nicht in der Lage abzunehmen, werden oft allein Motivationsprobleme als Grund dafür angenommen (Puhl & Suh, 2015).

Stigmatisierende Einstellungen können die Behandlung beeinflussen. Je schwerer ein Patient ist, als umso ungesünder und weniger diszipliniert wird er von Ärzten eingeschätzt. Dementsprechend gingen Ärzte in verschiedenen Studien nicht von einem Erfolg der Behandlung aus und verbrachten deshalb auch weniger Behandlungszeit mit Patienten mit Adipositas (Phelan et al., 2015; Smigelski-Theiss, Gampong, Kuraski & 2017). Zudem waren gewichtsbezogene stigmatisierende Einstellungen bei Ärzten mit einer verringerten Arzt-Patient-Kommunikation verbunden (Gudzune et al., 2013). Ein umfangreicheres Wissen über Gewichtsreduktion erleichterte Ärzten hingegen den Umgang mit diesem Thema und war mit weniger Frustration und Pessimismus verbunden.

Nicht nur Ärzte, sondern auch Patienten mit Adipositas selbst gaben an, weniger Behandlungszeit als normalgewichtige Patienten zu erhalten (Tomiyama et al., 2018). Die Mehrzahl der befragten Patienten mit Adipositas berichten, sich mehrmals von Ärzten diskriminiert gefühlt zu haben. Diese erlebte Diskriminierung und die daraus folgende Selbststigmatisierung könnte auch ein Grund für das häufige Absagen oder Verschieben von Arztterminen durch betroffene Patienten sein (Phelan et al., 2015). Des Weiteren sind Patienten mit Adipositas mit der medizinischen Versorgung weniger zufrieden als normalgewichtige Patienten (Tomiyama et al., 2018). Sie fühlen sich im Kontakt mit Ärzten häufig abgewertet, ignoriert und falsch behandelt. So berichteten Patienten mit Adipositas etwa, dass Ärzte ihnen die notwendige Hilfe verwehrten und ihre Hilfegesuche eher ablehnten.

Patienten mit Adipositas nennen folgende Gründe für die Vermeidung von Arztbesuchen (Hilbert & Geiser, 2012):

  • Scham über das eigene Gewicht
  • Unbehagen beim Ausziehen
  • Angst, gewogen zu werden
  • Unbehagen bei der Untersuchung und Berührung bestimmter Körperteile
  • Erhalten ungebetener Ratschläge
  • Gefühl, nicht ernst genommen zu werden
  • Gefühl, dass das Gewicht als Begründung für jegliche Beschwerden herangezogen wird
  • Unzureichende Ausstattung (z.B. zu kleine Behandlungstische)
Im Gesundheitswesen sind stigmatisierende Einstellungen weit verbreitet und können sich auf die Behandlung auswirken.

Insgesamt ist die erlebte Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas mit einer verringerten Inanspruchnahme von medizinscher Hilfe verbunden (Tomiyama et al., 2018) und letztlich auch mit einem verringerten Behandlungserfolg (Phelan et al., 2015; s. auch Konsequenzen von Stigmatisierung ).