Psychologische Begleiterscheinungen

Neben direkten negativen Auswirkungen gewichtsbezogener Stigmatisierung auf medizinische Parameter zeigen sich Begleiterscheinungen im Ess- und Bewegungsverhalten der Betroffenen (s. Abbildung), welche wiederum im Zusammenhang mit Behandlungserfolg und Gesundheitszustand stehen. So folgte, entsprechend einer Übersichtsarbeit, ein gesteigertes Essverhalten auf häufig erlebte gewichtsbezogene Stigmatisierung (Wu & Berry, 2018). Auch in Laborexperimenten führte das Ansehen von gewichtsstigmatisierenden Videos bei Frauen mit Übergewicht zu einer erhöhten Kalorienzufuhr im Vergleich zum Ansehen eines neutralen Videomaterials (Major et al., 2014). Gewichtsbezogene Stigmatisierungserfahrungen standen überdies im Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten von verzerrtem Denken und Erleben bezüglich des Essens (d.h. Essstörungspsychopathologie). So verstärkte die erlebte Stigmatisierung ein negatives Körperbild (z.B. eine verzerrte Körperwahrnehmung bzw. vermehrte figurbezogene Sorgen) sowie emotionales Essen (d. h. als Reaktion auf Emotionen) (O'Brien et al., 2016). Der Zusammenhang zwischen Selbststigmatisierung und Aspekten eines veränderten Essverhaltens wurde ebenfalls in verschiedenen Untersuchungen dargelegt (Baldofski et al., 2016). Zusammenfassend unterstreichen die Befunde die Bedeutung von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung für das Essverhalten – und damit auch für die Ernährungstherapie im Rahmen multimodaler verhaltenstherapeutischer Adipositas-Programme.

 

Begleiterscheinungen von erlebter gewichtsbezogener Stigmatisierung und Selbststigmatisierung

Begleiterscheinungen von erlebter gewichtsbezogener Stigmatisierung und Selbststigmatisierung

 

Einen weiteren für die Gewichtsreduktion relevanten Aspekt stellt die körperliche Aktivität dar. Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen zeigten gewichtsunabhängige Zusammenhänge zwischen erlebter Stigmatisierung (z.B. im Sportunterricht) und beeinträchtigter körperlicher Fitness, geringerer körperlicher Selbstwirksamkeit, verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit und geringerer Teilnahme an Bewegungsangeboten (Pont, Puhl, Cook et al., 2017). Im Vergleich zur erlebten Stigmatisierung waren diese Zusammenhänge für die Selbststigmatisierung wiederum besonders ausgeprägt (Pearl et al., 2015).

Konsistent mit den obigen Befunden wurden negative Auswirkungen von erlebter gewichtsbezogener Stigmatisierung auf den generellen Erfolg der verschiedenen Behandlungsansätzen zur Gewichtsreduktion  belegt (Phelan et al., 2015). Der Behandlungserfolg eines Gewichtsreduktionsprogramms war dann verringert, wenn Patienten sich durch ihre Behandler ungerecht bewertet fühlten (z.B. wegen ihres Gewichts; Gudzune et al., 2014). Zudem äußerten Patienten mit gewichtsbezogenen Stigmatisierungserfahrungen unrealistischere Therapieziele als Patienten ohne Stigmatisierungserfahrungen bei vergleichbarem BMI (Sharma et al., 2011). Während Befunde zu Zusammenhängen zwischen der Selbststigmatisierung und dem Erfolg von Lebensstilveränderungen zur Gewichtsreduktion uneinheitlich waren (Papadopounos & Brennan, 2015; Puhl & Suh, 2015), zeigte eine Studie einen verringerten Gewichtsreduktionserfolg 12 Monate nach einer adipositaschirurgischen Operation bei Patienten mit erhöhter Selbststigmatisierung (Lent et al., 2014).

Gewichtsbezogene Stigmatisierung ist schließlich mit dem vermehrten Auftreten von psychischen Problemen verbunden (s. Abbildung). Zahlreiche Studien zeigen, dass Erfahrungen gewichtsbezogener Stigmatisierung mit erhöhten depressiven Symptomen verbunden sind (vgl. für eine Übersicht: Papadopoulos & Brennan, 2015). Auch zwischen Selbststigmatisierung und depressiven Symptomen zeigte sich ein solcher Zusammenhang (Hilbert et al., 2014; Lent et al., 2014; Papadopoulos & Brennan, 2015). Hilbert und Kollegen (2014) fanden in einer bevölkerungsbasierten Befragung, dass die Selbststigmatisierung bei Menschen mit Adipositas mehr zu depressiven Symptomen beitrug, als der BMI der Befragten. Gewichtsbezogene Stigmatisierungserfahrungen standen außerdem im Zusammenhang mit verringertem Selbstwertgefühl einer gesteigerten Angstsymptomatik (Wu & Berry, 2018) sowie einer verringerten Lebensqualität (Pearl & Puhl, 2014).